Führung ist ein komplexes Thema, das seit Jahrzehnten untersucht wird. Eine der interessantesten Theorien, die in den späten 1970er Jahren aufkam, ist die Substitutionstheorie von Steven Kerr und John M. Jermier. Diese Theorie stellt die provokante Behauptung auf, dass Führung unter bestimmten Umständen ersetzt, neutralisiert oder sogar verbessert werden kann. Doch wie genau funktioniert das und welche Rolle spielen Führungskräfte in diesem Modell?
Was ist die Substitutionstheorie?
Die Substitutionstheorie von Kerr und Jermier wurde 1978 entwickelt und besagt, dass es Variablen gibt, die den Einfluss von Führung auf die Leistung von Mitarbeitenden entweder ersetzen oder überflüssig machen können. Diese Variablen, die sogenannten „Substitute“, sind in der Lage, die Notwendigkeit von Führung zu reduzieren. Mit anderen Worten: In bestimmten Situationen kann Führung ersetzt werden, ohne dass die Ergebnisse darunter leiden.
Die Ursprünge der Substitutionstheorie
Die Theorie entstand in einer Zeit, in der viel über Führungsstile und ihre Wirkung auf Teams geforscht wurde. Die bis dahin vorherrschenden Ansätze, wie die eigenschaftsorientierten Führungsstile, gingen davon aus, dass Führung eine angeborene Fähigkeit sei, die manche Menschen haben und andere nicht. Kerr und Jermier hingegen vertraten die Ansicht, dass Führung auf erlernbarem Verhalten basiert und durch äußere Umstände beeinflusst wird.
Zu dieser Zeit beschäftigte sich Kerr intensiv mit Themen wie organisatorischer Unabhängigkeit und Führungskonstrukten wie Rücksichtnahme und initiierender Struktur. Er fand heraus, dass die Wirksamkeit von Führungsverhalten stark von moderierenden Variablen abhängig ist. Diese Variablen beeinflussen die Beziehung zwischen Führungsverhalten und den Ergebnissen der Untergebenen.
Die Substitute: Was ersetzt Führung?
Kerr und Jermier identifizierten drei Hauptkategorien von Substituten:
- Merkmale der unterstellten Person:
- Fähigkeiten der unterstellten Person: Hochqualifizierte Mitarbeitende benötigen weniger Anleitung und Überwachung.
- Berufliche Orientierung: Mitarbeitende mit einer starken beruflichen Orientierung arbeiten eigenständiger.
- Merkmale der Aufgabe:
- Eindeutige und routinemäßige Aufgaben: Wenn Aufgaben klar definiert sind und regelmäßige Rückmeldung bieten, reduziert dies den Bedarf an Führung.
- Intrinsisch befriedigende Aufgaben: Aufgaben, die an sich schon motivierend sind, machen externe Führung weniger wichtig.
- Merkmale der Organisation:
- Kohäsive Arbeitsgruppen: Stark zusammengeschweißte Teams benötigen weniger direkte Führung.
- Organisatorische Formulierung: Klare, schriftlich festgelegte Ziele und Leistungsbeurteilungen können Führungskräfte teilweise ersetzen.
- Selbstverwaltete Arbeitsteams: Teams, die ihre Arbeit selbstständig organisieren, sind weniger abhängig von formalen Führungskräften.
Führung verbessern oder neutralisieren
Neben der Substitution von Führung gibt es auch Faktoren, die Führung entweder verbessern oder neutralisieren können:
- Verbessernde Faktoren:
- Untergebene mit Erfahrung: Erfahrene Mitarbeitende sind besser in der Lage, selbst die unklarsten Anweisungen umzusetzen.
- Nicht routinemäßige Aufgaben: Komplexe, kreative Aufgaben profitieren weiterhin von direkter Führung.
- Gruppennormen und Belohnungsmöglichkeiten: Normen, die die Zusammenarbeit fördern, sowie die Möglichkeit, Mitarbeitende zu belohnen, können die Effektivität von Führungskräften steigern.
- Neutralisierende Faktoren:
- Gleichgültigkeit gegenüber Belohnungen: Wenn Mitarbeitende nicht an Belohnungen interessiert sind, verlieren Führungskräfte einen wichtigen Hebel zur Einflussnahme.
- Fehlende Entscheidungskompetenz der Führungskraft: Wenn Entscheidungen über Belohnungen oder Bestrafungen nicht in der Hand der Führungskraft liegen, wird ihre Rolle geschwächt.
Die Praxis: Führung in der modernen Arbeitswelt
Kerr und Jermier schlugen vor, dass autonome Arbeitsgruppen und Selbstmanagement die formale Führung ersetzen können. Autonome Arbeitsgruppen organisieren ihre Arbeit selbst und benötigen weniger Führung von außen. Diese Form der Organisation kann sowohl die Zufriedenheit als auch die Produktivität steigern, wie verschiedene Studien gezeigt haben.
Selbstmanagement, wie es von Thoresen und Mahoney definiert wurde, ist ein weiteres Beispiel, wie Mitarbeitende sich selbst führen können. Durch Selbstbeobachtung, Zielsetzung und Selbstbewertung können Untergebene ihre Aufgaben eigenständig bewältigen, wodurch die Notwendigkeit einer direkten Führungskraft reduziert wird.
Kritik an der Substitutionstheorie
Trotz ihrer innovativen Ansätze bleibt die Substitutionstheorie nicht ohne Kritik. Ein häufig angeführtes Problem ist die Schwierigkeit, Substitute zu identifizieren, die Führung vollständig ersetzen können. Zudem gibt es nur wenige Langzeitstudien, die die langfristigen Auswirkungen dieser Substitute auf die Mitarbeiterleistung untersuchen.
Keller führte eine Längsschnittstudie durch, die zeigte, dass einige Substitute, wie Fähigkeit und intrinsische Zufriedenheit, die Teamleistung im Laufe der Zeit beeinflussen. Dies deutet darauf hin, dass weitere Forschung notwendig ist, um die langfristige Wirksamkeit der Substitutionstheorie zu bestätigen.
Fazit: Führung neu gedacht
Die Substitutionstheorie bietet einen faszinierenden Blick auf Führung und zeigt auf, dass Führung nicht immer von einer Person ausgehen muss. In bestimmten Situationen können gut organisierte Teams und kompetente Mitarbeitende die Rolle einer Führungskraft übernehmen oder zumindest stark reduzieren. Obwohl die Theorie nicht ohne Kritik ist, bietet sie wertvolle Einsichten in die Dynamik von Führung und Teamarbeit und fordert uns auf, die traditionellen Rollenbilder von Führung zu überdenken.
In einer immer komplexer werdenden Arbeitswelt könnte die Fähigkeit, Führung effektiv zu substituieren, zu einem entscheidenden Erfolgsfaktor werden.
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